Anime-Filmkritik: „Der Junge und der Reiher“ (2023) – 「君たちはどう生きるか」

Letzte Beitragsänderung erfolgte am 25.01.2024.

Aktuell läuft in deutschen Kinos der neue Zeichentrickfilm des japanischen Altmeisters des Anime Miyazaki Hayao: „Der Junge und der Reiher“ (『君たちはどう生きるか』/ きみたちはどういきるか, zu Deutsch: „Wie lebt ihr?“). Der Anime aus dem Studio Ghibli hat den Golden Globe 2024 als bester Animationsfilm gewonnen.

„Der Junge und der Reiher“ – der neue Anime von Miyazaki Hayao

Der japanische Regisseur Miyazaki Hayao (宮崎 駿 / みやざき はやお) und sein Studio Ghibli (スタジオジブリ) haben japanische Zeichentrickfilme, Anime (アニメ), in Deutschland bekannt und beliebt gemacht. Am bekanntesten dürften hierzulande seine folgenden Werke sein:

  • 1997: „Prinzessin Mononoke“ (japanischer Titel: „Mononoke Hime“, 『もののけ姫 』/ もののけひめ),
  • 2001: „Chihiros Reise ins Zauberland“ (japanischer Titel: „Sen to Chihiro no kamikakushi“, 『千と千尋の神隠し』 / せんとちひろのかみかくし, zu Deutsch: „Sen und Chihiros plötzliches Verschwinden durch Götterhand“),
  • 2004: „Das wandelnde Schloss“ (japanischer Titel: Hauru no Ugoku Shiro, 『ハウルの動く城』 / はうろのうごくしろ),
  • 2013: „Wie der Wind sich hebt“ (japanischer Titel: Kaze Tachinu, 『風立ちぬ』 / かぜたちぬ).

Zum Inhalt des Anime „Der Junge und der Reiher“

Der Junge Maki Mahito (牧 眞人 / まき まひと) verliert während des Zweiten Weltkriegs seine Mutter Hisako (ヒサコ / ひさこ). Diese arbeitet in einem Krankenhaus, das während eines Luftangriffs auf Tokio bombardiert wird und in Flammen aufgeht. Seitdem erlebt Mahito die traumatische Nacht immer wieder in seinen Albträumen.

Mahito aus "Der Junge und der Reiher", © STUDIO GHIBLI 2023
Mahito aus „Der Junge und der Reiher“, © STUDIO GHIBLI 2023

Sein Vater Maki Shōichi (jap. 牧 勝一 / まき しょういち) beschließt nach einiger Zeit, Hisakos jüngere Schwester, Natsuko (夏子 /なつこ), zu heiraten und mit seiner Familie aufs Land, in das Haus der Familie seiner Frau, zu ziehen. Mahito lernt erst dort angekommen seine Stiefmutter Natsuko kennen und erfährt, dass sie schwanger ist.

Mahitos Vater Shōichi und Stiefmutter Natsuko, © STUDIO GHIBLI 2023
Mahitos Vater Shōichi und Stiefmutter Natsuko, © STUDIO GHIBLI 2023

Mahito fühlt sich in der neuen Lebenssituation nicht wohl. Er verhält sich seiner Stiefmutter gegenüber reserviert. In der Schule erfährt er durch seine Mitschüler als reicher Junge aus Tokio offene Abneigung. Sein Vater widmet sich unterdessen mit großem Tatendrang dem Aufbau einer neuen Fabrik auf dem Lande. Dass es sowohl seiner neuen Frau als auch seinem Sohn nicht gut geht, nimmt er kaum wahr.

In dieser Situation bricht das Übernatürliche in Mahitos Welt ein: Ein seltsamer Graureiher verfolgt ihn zunächst und lockt ihn schließlich zu einem halb verfallenen Turm im Wald. Angeblich lebe seine Mutter noch und er müsse in den Turm kommen, um sie zu retten. Aber erst als seine Stiefmutter plötzlich verschwindet und die Spuren zum Turm führen, betritt Mahito den Turm und damit eine gefahrenreiche magische Parallelwelt …

Trailer zum Anime „Der Junge und der Reiher“

In welchen deutschen Kinos läuft der Anime „Der Junge und der Reiher“?

Auf der Internetseite https://derjungeundderreiher.de/ erfahrt ihr über die Suchfunktion, in welchen Kinos der Anime aktuell läuft.

Meine Meinung zum Anime „Der Junge und der Reiher“

Achtung: Meine folgende Beurteilung enthält Spoiler! Bitte lest sie nicht, falls ihr euch den Anime noch nicht angesehen habt.

Story

Eine düstere Version von „Chihiros Reise ins Zauberland“?

„Der Junge und der Reiher“ erinnert in vielen Punkten an Miyazakis Erfolgs-Anime „Chihiros Reise ins Zauberland“ aus dem Jahr 2001. Hier wie dort betritt ein Kind durch ein Tor eine magische Welt, in der es seine Eltern beziehungsweise seine Mutter und Stiefmutter retten möchte.

Aber „Der Junge und der Reiher“ scheint eine erwachsenere und vor allem bedrohlichere Variante von „Chihiros Reise ins Zauberland“ zu sein. Während Chihiro zu Anfang ein unbeholfenes, ängstliches Mädchen ist, das mit der Hilfe von Freunden etliche Prüfungen zu bestehen hat und dabei reift, ist Mahito ein verschlossener, aber furchtloser Junge, der sich durch eine bedrohliche Welt schlagen muss, deren Regeln er nicht versteht. Bis auf das Feuer-Mädchen Himi sind alle, die ihm helfen oder ihm gefährlich werden, schwer zu durchschauen.

Himi und Mahito aus "Der Junge und der Reiher", © STUDIO GHIBLI 2023
Himi und Mahito aus „Der Junge und der Reiher“, © STUDIO GHIBLI 2023

Und während die Figur der freundlichen Chihiro und die bunte, berauschende Szenerie den Zuschauern immer das Gefühl vermitteln, dass selbst die bedrohlichsten Szenen (zum Beispiel die Verfolgung Chihiros durch das vollgefressene Ohngesicht) gut ausgehen werden, erscheinen bei Mahito sowohl die reale als auch die magische Welt stets als unheimlich-bedrohlich.

Aufarbeitung der realen Probleme in der Fantasiewelt

Dies liegt wohl daran, dass Mahito in der magischen Welt den Verlust seiner Mutter, das Kriegstrauma und seine aktuelle Lebenssituation verarbeitet. Während Chihiro eine magische Welt erlebt, die von den Ungeheuern, Geistern und Göttern der japanischen Folklore bevölkert ist, wird deutlich, dass die übernatürlichen Figuren, denen Mahito in der Turm-Welt begegnet, Spiegelbilder der realen Welt sind: Überall treten Vögel als Bedrohung auf. Sie sind nicht nur Soldaten, sondern verkörpern wohl auch die Bomberflugzeuge, die das Krankenhaus von Mahitos Mutter in Brand gesetzt haben. Zudem spiegelt die emsige Futtersuche der Riesensittiche das Sehnen der Hausbediensteten nach den im Krieg raren Speisen und Waren.

Mahito und Riesensittiche aus "Der Junge und der Reiher", © STUDIO GHIBLI 2023
Mahito und Riesensittiche sowie Hausbedienstete aus „Der Junge und der Reiher“, © STUDIO GHIBLI 2023

Auch die unausgesprochene Kritik an den Eltern fällt in „Der Junge und der Reiher“ härter als in „Chihiros Reise ins Zauberland“ aus. Chihiros Eltern werden lediglich als gierige Esser dargestellt. Mahitos Vater hingegen produziert in seiner neuen Fabrik Jagdflugzeugkanzeln. Er verdient also am Krieg und produziert eben jenes Kriegsgerät, dass seine Frau das Leben gekostet hat.

Vielschichtige Charaktere

Insgesamt aber sind alle Charaktere vielschichtig. Im Gegensatz zu westlichen Geschichten à la Walt Disney gibt es nie ein reines Schwarz-Weiß, hier die guten Helden, dort die Bösewichte. Alle Figuren haben positive und negative Seiten. Wer zunächst ein Feind oder Bösewicht zu sein scheint, beweist später positive Eigenschaften. Und alle „Guten“ haben auch Fehler und Schwächen. Diese japanische Erzähltradition stellt meiner Meinung nach eine echte Bereicherung für die westliche Welt dar und führt dazu, dass viele japanische Anime zu einer stärkeren geistigen Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt anregen als so viele westliche Zeichentrickfilme.

„Der Junge und der Reiher“ scheint zudem viele Anspielungen zu enthalten, die sich (zumindest einem westlichen Publikum) nicht auf Anhieb erschließen. Ich denke, ich müsste den Anime mehrmals sehen und mich ausgiebig informieren, um alle Bezüge verstehen zu können.

Drehbuch

Im Vergleich zu anderen Anime von Miyazaki Hayao hat die Geschichte leider ein paar Längen. Die letzte Filmminute (Nachtrag zum Ende der Geschichte) erscheint mir zudem unnötig.

Animation

„Der Junge und der Reiher“ ist unverkennbar ein echter Miyazaki. Euch erwarten berauschend schöne Bilder, beeindruckende Einstellungen und eine Fülle an bizarren Figuren.

Mein persönliches Fazit

„Der Junge und der Reiher“ hat bei mir ein zwiespältiges Gefühl hinterlassen. Die Bildsprache und der Ideenreichtum sind so beeindruckend wie in anderen Werken Miyazakis. Aber ich habe das Kino nicht mit jenem Hochgefühl verlassen, wie es zum Beispiel Miyazakis Anime „Prinzessin Mononoke“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ bei mir ausgelöst haben. „Der Junge und der Reiher“ entließ mich eher nachdenklich und in etwas bedrückter Stimmung.

Es handelt sich auf jeden Fall um keinen Zeichentrickfilm für jüngere Kinder. Davon zeugt auch die FSK-Altersfreigabe ab 12 Jahren.

Details zum Anime

  • Titel: Kimitachi-wa dō ikiru ka (『君たちはどう生きるか』/ きみたちはどういきるか, deutsch: „Wie lebt ihr?“).
  • deutscher Titel: „Der Junge und der Reiher“
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Studio: Studio Ghibli (スタジオジブリ)
  • Länge: 124 Minuten
  • Regie/Drehbuch: Miyazaki Hayao (宮崎 駿 / みやざき はやお)
  • Musik: Hisaishi Joe (久石 譲 / ひさいし じょう)

Sprecher

  • Maki Mahito, der Junge: Santoki Soma (山時 聡真 / さんとき そうま)
  • Graureiher (im Japanischen heißt der Graureiher übrigens Blaureiher: 青サギ / あおさぎ): Suda Masaki (菅田 将暉 / すだ まさき)
  • Himi, das Feuer-Mädchen: Aimyon (あいみょん)
  • Natsuko, Mahitos Stiefmutter: Kimura Yoshino (木村 佳乃(きむら / よしの)
  • Großonkel: Hino Shōhei (火野 正平/ ひの しょうへい)
  • Kiriko, eine Fischerin: Shibasaki Ko (柴咲 コウ / しばさき こう)
  • Maki Shōichi, Mahitos Vater: Kimura Takuya (木村 拓哉 / きむら たくや)

Weiterführende Informationen

1 Gedanke zu „Anime-Filmkritik: „Der Junge und der Reiher“ (2023) – 「君たちはどう生きるか」“

  1. Ich habe den Film vor ein paar Tagen auch gesehen.
    Da ich bis jetzt bei fast jedem Film aus dem Hause Ghibli mindestens einmal in Tränen ausgebrochen bin, habe ich mir diesmal ein extra Paket Taschentücher mitgenommen.
    Ich habe kein einziges davon gebraucht.
    Stattdessen kam ich sehr irritiert aus dem Kinosaal. Ich kann nicht wirklich sagen, ob er er mir nun gefallen hat oder nicht, nur, dass er mich immernoch beschäftigt.

    [Achtung, Spoiler]
    Irgendwie konnte ich zu keinem der Charaktere eine emotionale Bindung aufbauen, was sonst in jedem anderen Ghibli Film der Fall war, gerade durch den Verzicht von Stereotypen und Aufteilungen in „gut“ und „böse“. Aber diesmal habe ich mit niemandem wirklich mitfiebern können.
    Vielmehr fühlte sich ziemlich genau ab dem Moment, in dem Mahito sich mit dem Stein die Kopfverletzungen zugefügt hat, der Film für mich immer mehr nach einem wirren Fiebertraum an.

    Auch wenn es eine Aufarbeitung seiner traumatischen Erlebnisse darstellen sollte, war mir diese an vielen Stellen zu abstrakt. Der dünne rote Faden der Geschichte, die Suche nach seiner Stiefmutter/Tante, hielt für mich das Gesamtkonstrukt kaum dürftig zusammen.
    Mein Freund empfand es sogar eher als eine Reihe von Kurzfilmen, die von unterschiedlichen Autoren verfasst wurden, welche zwar einige Rahmenbedingungen genannt bekamen, aber denen strikt verboten wurde, miteinander zu kommunizieren.

    Vielleicht fehlt mir zu viel Hintergrundwissen über japanische Kultur und Mythologie, aber die Dialog und Handlungen wirkten auf mich irgendwann so unnachvollziehbar, dass es mir schon fast willkürlich vorkam. Das ging für mich weit über die manchmal nicht ganz logischen aber sich dennoch stimmig anfühlenden Szenen anderer Ghibli Filme hinaus.
    Als beispielsweise im Film „Das wandelnde Schloss“ plötzlich unbedingt dem Feuerdämon ein abgeschnittener Haarzopf als besonders mächtiges Energiehäppchen verfüttert werden musste, um das Schloss noch etwas länger am wortwörtlichen Laufen zu halten, konnte ich das belächelnd als Eigenart dieser Fantasiewelt abtun.
    Hier gab es aber Bauklötze, die Mahito erst für böse erklärte und deswegen nicht anfassen wollte. Denn sie waren aus Grabsteinen. Für diese Beobachtung wurde er sogar gelobt. Später waren die Bauklötze aber doch nicht böse. Aber er wollte sie trotzdem nicht anfassen. Weil er etwas böses in sich hat. Denn er hat sich ja einen Stein an den Kopf geschlagen.
    Und dann kommt ein riesiger Wellensittichkönig und wirft alles um. Also wirklich alles, die ganze Welt. Einfach so. So ein Vogelmist aber auch – von dem gab es ja am Ende auch enorm viel.

    Rückblickend kamen in mir Erinnerungen an meinen Vortrag zu Goethes „Faust“ in der 12. Klasse hoch. Ich hatte damals mit einem gewissen Maß an Verzweiflung versucht, aus Faust II einen klaren Handlungsverlauf herauszuarbeiten. Meine Deutschlehrerin wies mich leider erst während des Vortrages darauf hin, dass es diesen im Gegensatz zu Faust I gar nicht gäbe. Es ist halt mehr eine Menschheitsparabel.
    So ähnlich erscheint mir dieser Anime im Vergleich zu den anderen Ghibli Filmen, die ich bisher gesehen habe.

    Abgesehen davon waren die Bilder aber fantastisch und ich habe mich zu keinem Moment gelangweilt. Dazu war ich viel zu verwundert.

    Alles in allem nehme ich aus diesem Filmerlebnis zumindest Dankbarkeit mit. Dafür, dass wir hier und jetzt in Deutschland gerade keinen Krieg haben, ich mit etwas Glück meine Söhne aufwachsen sehen darf und wir sehr wahrscheinlich nicht von Wellensittichen gefressen werden. Das ist schon einmal viel Wert finde ich.

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